Dreiteilung der Zustände des Menschen

Die erste Frage betrifft die physischen (natürlichen), moralischen und geistigen Zustände des Menschen. Diese Dreiteilung wird im Heiligen Koran so dargestellt, dass jedem der drei Zustände ein eigener Ursprung zugeordnet wird. Mit anderen Worten: er erwähnt drei verschiedene Quellen, denen diese drei Zustände entspringen.

Die erste Quelle: Der zum Bösen verleitende Trieb in uns

Die erste Quelle, welcher der physische Zustand des Menschen entspringt, wird im Heiligen Koran mit Nafs-e-ammara oder “der unbeherrschte Trieb’“ bezeichnet, wie es heisst:

“Und ich erachte mich selbst nicht frei von Schwäche; denn die Seele gebietet oft Böses, die allein ausgenommen, derer mein Herr Sich erbarmt. Fürwahr, mein Herr ist allverzeihend, barmherzig.“ (12:54)

Das heisst, der unbeherrschbare Geist neigt dazu, den Menschen zum Schlechten zu verleiten (12:54). Es ist ein Merkmal des Nafs-e-ammara, den Menschen zum Bösen hinzudrängen, was seiner Vervollkommnung und seinem moralischen Zustand entgegengesetzt ist. Es verführt ihn also, unschickliche und böse Wege zu begehen. Auf einer bestimmten Stufe seiner Entwicklung ist der Mensch zur Zügellosigkeit und zum Schlechten geneigt, ein Zustand, der seiner Natur nach solange vorherrscht, bis der Mensch zur entwickelten Stufe des Moralischen übergeht. Dies entspricht dem ersten, natürlichen Zustand des Menschen, in welchem er verharrt, solange er nicht im Licht der wahren Weisheit und der Gotteserkenntnis wandelt, sondern bloss seinen natürlichen Neigungen wie Essen, Trinken, Schlafen, Erwachen, Zorn, Aufgeregtheit, Reizbarkeit usw. unbeherrscht folgt – den Tieren gleich.

Sobald er sich aber von der Herrschaft der triebhaften tierischen Neigungen befreit und diese seine natürlichen Triebe im Zaume hält – und sie beherrscht, anstatt von ihnen beherrscht zu sein -, indem er sich vom Verstand und von der Gotteserkenntnis führen lässt, bleibt er nicht mehr in dem natürlichen Zustand befangen, sondern geht in den gehobenen Zustand der Moral über. Von da an hören diese drei Zustände – wie beschrieben – auf, Kategorien des natürlichen Zustandes zu sein, sondern werden moralische Zustände genannt.

Die zweite Quelle: Das sich anklagende Selbst

Die Quelle des moralischen Zustandes wird im Heiligen Koran als Nafs-e-lawwama, oder das “sich anklagende Selbst“ (Gewissen) bezeichnet, wie es heisst:

“Nein! ich rufe zum Zeugen die sich selbst anklagende Seele.“ (75:3)

Das heisst: Ich schwöre im Namen des Gewissens, das sich tadelt (bei jeder Unterlassung der Pflicht oder bei der geringsten Übertretung der sittlichen Grenzen). Dieses Nafs-e-lawwama stellt die zweite Quelle des sittlich gehobenen Zustandes der Menschen dar, die den moralischen Zustand zeugt. Auf dieser Stufe angelangt, befreit sich der Mensch von seinen tierischen Trieben. Das Schwören bei der “sich-anklagenden-Seele“ zeigt die Achtung, die man einer solchen Seele zollt, denn die Wandlung von dem unbeherrschten, ungehorsamen Trieb (Nafs-e-ammara) zum sich anklagenden Selbst (Nafs-e-lawwama) bedeutet zweifellos eine Besserung, die ihr das Wohlgefallen Gottes zusichert.

Lawwama heisst “der streng Rügende“, und Nafs-e-lawwama, heisst es darum, weil es dem Menschen jede schlechte Tat zum Vorwurf macht und die hemmungslose Befriedigung seiner körperlichen Begierden und die entfesselten Leidenschaften und tierischen Triebe aufs äusserste verwirft. Dieses Selbst will hingegen die edlen Eigenschaften und eine tugendhafte Disposition im Menschen erwecken und das Leben so umgestalten, dass der ganze Lebenslauf einer Mässigung unterzogen werde, und sinnliche Triebe mit Hilfe des Verstandes geleitet werden. Deshalb heisst es Nafs-e-lawwama, weil es sich selbst seine schlechten Taten vorwirft, d. h. “das sich stark Tadelnde, sich oft Rügende“.

Aber obschon der Mensch auf dieser Stufe die ausschliessliche Befriedigung des Körperlichen nicht duldet und sich wegen seiner Fehler und Vergehen tadelt, so beherrscht er dennoch nicht gänzlich seine Leidenschaften, und es fehlt ihm an der Kraft, um einzig und allein in der Tugend zu leben. Er fällt gelegentlich den fleischlichen Trieben anheim, infolgedessen strauchelt er und stürzt. Seine Schwäche lässt sich wohl mit der eines Kleinkindes vergleichen, das sicher nicht fallen möchte, doch dessen Beine manchmal versagen. Der Mensch verharrt aber nicht in seinem Fehler, denn jeder Fehltritt macht ihn erneut reuig. Dieses ist der Zustand des Menschen, in dem er sich bemüht, die hohen moralischen Eigenschaften in sich zu vereinen und gegen die Versuchungen anzukämpfen. Er ist aber noch ausserstande, sein Selbst vollständig zu beherrschen.

Die dritte Quelle: Die beruhigte Seele

Die dritte Stufe des Fortschritts des menschlichen Geistes ist der eigentliche Ursprung des geistigen Zustandes. Der Heilige Koran benennt diese Stufe Nafs-e-mutmainna, d. h. “die beruhigte Seele“, wie es heisst:

“[Doch] du, o beruhigte Seele [die du deinen Frieden in deinem Herrn gefunden hast], kehre zurück zu deinem Herrn, befriedigt in [Seiner] Zufriedenheit d.h. indem Er dir gefällt und du Ihm gefällst. So tritt denn ein unter Meine Diener, und tritt ein in Meinen Garten.“ (89:28-31)

Auf dieser Stufe wird die Seele von allen Schwächen und Gebrechen befreit und mit geistiger Kraft ausgerüstet. Sie fühlt sich mit Gott so verbunden, als ob sie ohne Ihn nicht bestehen könnte. Wie Wasser gewaltig den Hang hinabströmt und wegen seiner grossen Menge und wegen des Fehlens jeglicher Hindernisse mit einer unwiderstehlichen Macht niederstürzt, ebenso strömt nun die Seele, ungehindert und aller Fesseln ledig, ihrem Schöpfer zu.

Auf diesen Zustand beziehen sich die oben angeführten Worte. Der Vers “Du, o beruhigte Seele, die du deinen Frieden in deinem Herrn gefunden hast, kehre zurück zu Ihm“ besagt weiter, dass sich diese grosse Umwandlung in diesem Leben und nicht erst im Jenseits vollziehen soll, und dass die Seele ins Paradies schon hienieden und nicht erst im Jenseits eintreten darf. Ferner, da die Seele zurück zu ihrem Herrn (arabisch: Rabb, wörtlich „Erhalter und Erzieher“) gewiesen wird, ist es auch klar, dass eine solche Seele ihre Befriedigung nur im Herrn finden kann. Sie lebt von der Liebe Gottes, und sie labt sich mit vollen Zügen an diesem Quell des Lebens und ist deshalb unsterblich. Derselbe Gedanke findet Ausdruck in einem anderen Vers des Heiligen Korans, wo Gott sagt:

“Wer seine Seele [vom Irdischen] reinigt, der wird gerettet und wird nicht vernichtet. Wer aber ungehemmt den fleischlichen Begierden folgt und dadurch seine Seele in Verderbnis sinken lässt, soll sicherlich keine Hoffnung mehr auf ewiges Leben haben.“ (91:10-11)

Diese drei Zustände der menschlichen Seele können als die physischen, die moralischen und die geistigen Zustände bezeichnet werden. Der physische Zustand, nämlich der, in dem der Mensch die Befriedigung seiner sinnlichen Triebe sucht, ist der gefährlichste von allen dreien, besonders dann, wenn die Triebe ausschweifen. Denn gerade dann versetzen sie den moralischen und geistigen Zuständen des Menschen einen Todesstoss. Deshalb wurde im Heiligen Buch Gottes dieser nur physische Zustand als der Geist bezeichnet, der Böses gebietet.

Man kann fragen:

Welches ist die Wirkung des Heiligen Qur-âns auf den natürlichen Zustand des Menschen? Welche Führung bietet der Qur-ân betreffs dieses Zustandes, und welchen Einschränkungen unterstellt er die natürlichen Begierden?

Die Antwort lautet, dass nach dem Koran der physische Zustand des Menschen eng mit seinem moralischen und geistigen Zustand verknüpft ist. Sogar die Nahrung spielt eine grosse Rolle bei der moralischen und geistigen Entwicklung des Menschen. Richten sich daher die körperlichen Neigungen nach dem Gesetz Gottes, werden sie zu den moralischen und geistigen Eigenschaften des Menschen – denn was immer in eine Salzgrube fällt, wird mit der Zeit zu Salz – und werden tief auf den geistigen Zustand der Seele wirken.

Aus diesem Grund wird im Heiligen Koran bei jedem Gebet und bei jeder Andacht sowie bei allen Handlungen, die die moralische Läuterung und Besserung betreffen, die äusserliche Sauberkeit und Ordentlichkeit verlangt, verbunden mit Reinheit und Bescheidenheit im Innern. Auch wird Gewicht auf die richtige Haltung des Körpers gelegt. Diese Philosophie bewahrheitet sich bei einer sorgfältigen Betrachtung der äusseren Handlungen und ihres Einflusses auf die innere Natur des Menschen, denn der Zustand der körperlichen Organe wirkt auf unsere Seele.

Auch erkünstelte Tränen betrüben das Herz, während Lachen, sei es auch nur künstlich herbeigeführt, unser Gemüt erfreut. In gleicher Weise erweckt das Sich-Niederwerfen (wie man es beim islamischen Gebet tut) in der Seele einen Zustand der Demut und veranlasst sie, zum Herrn aufzublicken; während ein stolzer Gang mit hochgerecktem Hals und erhöhter Brust tatsächlich ein Ausdruck von Hochmut und Eitelkeit ist. Diese Beispiele versinnbildlichen die Wirkung der physischen Zustände auf die spirituellen Zustände.

Erfahrung zeigt ebenfalls, wie verschiedene Nahrung auf das Herz und das Gehirn wirkt, das heisst auf Verstand und Gemüt. Eine nähere Betrachtung zeigt zum Beispiel, dass es den Vegetariern an persönlichem Mut gebricht. Sie gehen der gottbescherten edlen Eigenschaft des hohen Mutes verlustig, weil sie die Fleischkost meiden. Die Pflanzenfresser besitzen nicht einen Teil des Mutes der Fleischfresser; dasselbe gilt bei den Vögeln. Es besteht somit kein Zweifel darüber, dass die Nahrung eine grosse Rolle bei der Charakterbildung spielt. Ebenso schadet uns die ausschliessliche Fleischkost in nicht geringem Masse, denn wenn der Mensch sich der pflanzlichen Nahrung gänzlich enthält, gehen wertvolle Eigenschaften wie Sanftmut und Demut in ihm zugrunde. Diejenigen Hingegen, die den Mittelweg einschlagen, geniessen beide Vorteile, die des Mutes und die der Sanftmut. Demnach sagt Gott im Heiligen Koran:

“Esset und trinket, doch überschreitet das Mass nicht.“ (7:32)

Das heisst: Esset Fleisch sowie andere Speisen, ohne jedoch in irgendeiner Form der Nahrung zu übertreiben, und bewahret so den menschlichen Charakter und die Gesundheit vor Schaden. Wie das Körperliche das Seelische beeinflusst, so wird manchmal auch der Körper gleichfalls durch die Seele beeinflusst. Bei Kummer steigen uns Tränen in die Augen, und Freude veranlasst uns zum Lachen. So besteht eine natürliche Beziehung zwischen unserem Körper und der Seele, und alle unsere Handlungen und Bewegungen wie Essen, Trinken, Schlafen, Wachen, Gehen, Ruhen, Baden usw. bewirken notgedrungen einen entsprechenden Einfluss auf unsere geistige oder seelische Verfassung.

Wenn eine bestimmte Stelle im Gehirn verletzt wird, verliert man sofort sein Erinnerungsvermögen, und die Verletzung eines anderen Teils führt zur Bewusstlosigkeit. Vergiftete, verseuchte Luft beeinträchtigt zunächst rasch den Körper, dann beeinflusst sie den Geist, und binnen weniger Stunden wird das ganze System, welches das Zentrum aller moralischen Regungen ist, in Mitleidenschaft gezogen, und das arme Opfer siecht dahin wie ein Irrsinniger. Somit beweisen die körperlichen Verletzungen hinreichend, dass eine geheimnisvolle Beziehung zwischen Körper und Seele besteht, deren Umfassung weit über das hinausgeht, was der Mensch begreifen kann.

Ein weiterer Beweis für dieses Thema: Eine nähere Betrachtung zeigt, dass der Körper auch die Mutter der Seele darstellt. Die Seele fällt nicht vom Himmel hernieder in den Mutterschoss, sondern sie ist ein Licht, das selbst im Samen verborgen ist und das sich mit der Entwicklung des Körpers entfaltet. Dem Heiligen Wort Gottes entnehmen wir, dass die Seele zugleich aus dem Körper wächst, während dieser sich im Mutterschoss weiterentwickelt. Der Heilige Koran sagt:

“Dann entwickeln Wir es zu einer anderen Schöpfung. So sei denn Allah gepriesen, der beste Schöpfer.“ (23:15)

Das besagt, Gott verleiht dem Körper, der im Mutterschoss gedeiht, eine andere Gestalt und manifestiert daraus eine neue Schöpfung, die dann Seele heisst und voll der Segnungen ist; denn Gott ist der vortrefflichste Schöpfer, Der nicht Seinesgleichen hat.

Quelle: Der Verheissene Messiasas: Mirza Ghulam Ahmad, Die Philosophie der Lehren des Islams, Verlag Der Islam, 3. Auflage, S. 43-50