Internationale Verpflichtungen gegenüber ärmeren Ländern

Während der Erörterung über wechselweise zu ergreifende Massnahmen im Falle irgendeiner Naturkatastrophe oder grossen Unheils, von der irgendeine beliebige Gesellschaft betroffen ist (siehe den zuvorstehenden Kapitelabschnitt über Grundbedürfnisse), beschreibt der Heilige Koran die richtige Wahl in der folgenden Reihenfolge:

“Die Befreiung eines Sklaven, oder die Speisung an einem Tage der Hungersnot einer nahverwandten Waise, oder eines Armen, der sich im Staube wälzt.“ (90:14-17)

In anderen Worten lautet die richtige Wahl:

  1. Hier findet sich der wahre und unverfälschte Dienst an der Menschheit, der für Gott annehmbar ist, beschrieben. An erster Stelle derjenigen, die Hilfe benötigen, gilt, dass der Mensch jenen helfen soll, die sich in Unfreiheit oder Abhängigkeiten befinden. Jeder Einsatz, der diesem Gedanken entgegengesetzt ist, wird von Gott als wertlos erachtet. In Anbetracht dessen wird das moderne Verfahren finanzieller Hilfeleistung an weniger entwickelte Länder, die indes mit Vorbedingungen und Einschränkungen verknüpft ist, vollkommen abgelehnt.
  2. Die nächste Wahl beinhaltet die Speisung einer Waise, selbst dann, wenn er oder sie einen Vormund besitzt, der ihn oder sie unterstützt.
  3. Die letzte Wahl beinhaltet die Speisung eines Notleidenden, der so hilflos ist, als wenn er erschöpft im Staube läge. Gleichwohl hier in der Einzahl gesprochen wird, beschreibt dieser Vers (90:15) deutlich eine Krise grossen Ausmasses. Der Begriffsinhalt des Wortes Yaum (wortwörtlich: Tag) sowie der allgemeine Ausdrucksstil sind überaus augenscheinlich. Wenn man darüber nachdenkt, zeichnen die stillschweigenden Folgerungen dieses Verses ein sehr klares Bild, wie die grossen, reichen und mächtigen Nationen die ärmeren behandeln, die sich zu Zeiten äusserster Hilflosigkeit in Not befinden. Ihnen wird Hilfe gewährleistet, jedoch mit Beschränkungen behaftet. Derart wird der eigentliche Zweck und Sinn, anderen zu helfen, zerstört. Sie werden augenscheinlich von einer Not befreit, nur um in die Fallstricke einer anderen geführt zu werden.


Das gesamte gegenwärtige Gefüge von mit Bedingungen verknüpfter internationaler Hilfe wird hier knapp in solch wenigen Worten beschrieben. Den Gläubigen wird gesagt, dass sie sich aus der Lage hilfloser Menschen keinen ungerechtfertigten Vorteil verschaffen sollen, indem sie die Nöte armer Betroffener oder Nationen lindern und sie gleichzeitig ihrer Freiheit berauben. Das Wort Waise wird hier im weitergehenden Sinne benutzt, da es auf alle abhängigen Menschen wie auch Nationen anzuwenden ist. Solche Staaten, die Waisenkindern mit reicher Verwandtschaft gleich, von ihren Verwandten und Anverwandten alleingelassen wurden, sollten nicht ohne Hilfe bleiben, nur weil ihnen von anderen geholfen werden könnte, die in erster Linie für sie verantwortlich sind.

Der Fall der reichen Ölstaaten bietet ein gutes Beispiel. Wenn nur einige wenige der Golfstaaten sich die Hände gereicht hätten, um die immensen Leiden der Menschheit als Ganzes zu lindern, hätten sie das Problem des Hungers und der Dürre in Afrika ohne einen Stich zu spüren lösen können. Die Berge an Geld, das sie in Bankeinlagen und Fremdwährungseinlagen in den westlichen Ländern besitzen, erwirtschaften Zinsen und Einkommen, die allein ausreichen würden, die Not und das Leiden in Afrika zu lindern.

Der Fall mannigfaltiger Meere von Hunger, Not und Mangel, hervorgegangen aus den zahlreichen Unglücken Bangladeschs, ist ein weiterer bemerkenswerter Fall, den es in diesem Zusammenhang zu untersuchen gilt. Sie sind vom Rest der Welt ihrem eigenen Schicksal überlassen worden. Hilfe, die ihnen zutröpfelt – falls überhaupt geleistet -, ist im Grunde wirkungslos, um ihre Not zu lindern. Derlei Nationen müssen im Sinne des erweiterten Begriffes als Waisen-Staaten angesehen werden. Wenn solche Waisen-Staaten von ihren eigenen Verwandten und Anverwandten aufgegeben werden, stellt das in den Augen Gottes ein schwerwiegendes Verbrechen dar. Die Menschen haben in Bezug auf die Leiden der ärmeren Staaten Gott und der Natur gegenüber eine sehr treuherzige und sogar unehrliche Einstellung, obgleich es absolut zweifellos der Mensch selbst ist, der für seine äusserste Gefühllosigkeit und Missachtung anzuklagen ist. Wenn wir die Herzen der Menschen mit diesem besonderen Talent anfüllen und in der Lage sind, zum Wohle anderer zu leiden, kann die Welt noch immer in ein Paradies verwandelt werden. In der Welt ausserhalb des Islam herrscht dieselbe egoistische Einstellung vor.

Wenn Äthiopien beispielsweise enge Beziehungen zur Sowjetunion unterhält, sollte Hilfe nicht unter dem Vorwand zurückgehalten werden, dass es Sache der Sowjetunion wäre, ihrer Verantwortung als Patron nachzukommen. Wenn Millionen von Muslime im Sudan an Hunger sterben, sollte ihr Flehen nicht mit dem Einspruch ignoriert werden, dass die reichen Nationen wie Saudi-Arabien und andere ölreiche muslimische Staaten, die im Grunde genommen ihre Verwandten und Anverwandten sind, die letztendliche Verantwortung besässen, sie zu ernähren. Dies ist die wahre Bedeutung des arabischen Ausdrucks “Yatiiman sa Maqrabate“ (wörtlich: ein/e Waise, naher Anverwandter).

Nochmals, in diesem Vers wird darauf hingewiesen, dass Einzelpersonen oder Nationen, die aufgrund einzelner oder staatlicher Wirtschaftskrisen leiden, geholfen werden muss, so dass sie in der Lage sind, auf eigenen Füssen zu stehen. Dieselbe Beschreibung trifft auf viele Dritte-Welt-Länder zu, deren Volkswirtschaften sehr schnell zusammenbrechen, weil rechtzeitige, umfassende Hilfe nicht geleistet wird.

Die dritte Wahl lautet “Au Miskiinan Sa Martabate“ (wörtlich: eines Armen, der sich im Staube wälzt), was sich auf solche Wirtschaftsordnungen bezieht, die zu Staub zerfallen sind und in denen die gesamte staatliche Volkswirtschaft zusammengebrochen ist. Dem Heiligen Koran zufolge reicht es nicht aus, die Menschen in solchen Ländern nur zu ernähren. Es obliegt der Verantwortung der Menschheit, Massnahmen zur Wiederherstellung und Wiedereinsetzung ihrer Volkswirtschaften zu ergreifen. Unglücklicherweise verkörpern Handelsbeziehungen in diesem gegenwärtigen Zeitalter das genaue Gegenteil. Der Fluss des Reichtums fliesst immer in Richtung der reicheren und weiterentwickelten Länder, während die Volkswirtschaften der ärmeren Länder immer weiter in die roten Zahlen abrutschen.

Ich bin kein Volkswirt, aber ich verstehe zumindest dies, dass es für Dritte-Welt-Länder unmöglich ist, gegenseitige Handelsbeziehungen zu den entwickelten Ländern zu unterhalten, und dennoch den Fluss des Reichtums aus ihren Ländern in jene der Reichen zu verhindern, indem sie sicherstellen, dass die Exporterlöse der Importrechnung entsprechen.

Quelle: Der 4. Khalifa der Ahmadiyya Muslim Jamaat: Mirza Tahir Ahmad, Islam – Antworten auf die Fragen unserer Zeit, Verlag Der Islam, 2008, S. 246-250