Sufitum im Islam

Wo liegen die Ursprünge des Sufitums?

Tor Andrae erörterte diese Frage in seinem Buch “Islamische Mystiker“. Er schreibt:

“Wo liegen die Ursprünge des Sufitums? Ein Problem wird hier sichtbar, das für mich während dieser Studien wohl das Brennendste von allen gewesen ist. Die Forschung ist lange daran vorübergegangen. Man hatte irgendwie den Eindruck, dass ein so seltsames Gewächs wie die sufische Mystik nicht gut auf dem kargen Boden des Islams hatte wachsen können. Einmal verwies man auf die Perser, die so etwas wie eine angeborene Vorliebe für mystische Religiosität gehabt haben sollen, dann wieder vermutete man einen Einfluss Indiens, des Buddhismus und der Religion der Veda, oder man dachte an die neuplatonische Mystik, die man zumindest an Hand von arabischen Quellen studieren konnte. – Durch Massingnons glänzende Untersuchungen wurden diese unbestimmten Vermutungen dann plötzlich zurückgedrängt und überholt. Er hatte gezeigt, dass das Sufitum auf dem Boden des Islams gewachsen ist, Geist von seinem Geist, und Wort von seinem Wort. Das mystische Erlebnis ist emporgewachsen und hat seinen Weg unter dem unablässigen Studium des Korans gefunden, und seine technischen Ausdrücke und allgemeinen Fragestellungen sind von daher entnommen. Schritt für Schritt können wir verfolgen, wie diese Anschauung emporgewachsen ist. Eine Generation von Frommen hat der anderen die Hand gereicht, und man kann sogar, meint Massingnon, so weitgehende und vom Standpunkt des Islam kaum noch diskutable Lehren wie die des Hallag auf rein muslimischem Boden bis zu ihrem Boden bis zu ihrem Ursprung und ihrer Wurzel verfolgen. – Das ist zweifelsohne richtig.“ (“Islamische Mystiker“, Seite 13)

Was ist Sufitum?

Professor A.J. Arberry definiert es folgendermassen:

“Sufismus nennt man die mystische Bewegung innerhalb des Islams; ein Sufi ist ein Muslim, der nichts anderes mehr wünscht, als das Suchen nach der mystischen Vereinigung (oder besser gesagt: Wiedervereinigung) mit seinem Erschaffer. Der Name ist arabischen Ursprungs, abgeleitet von dem Worte suf, dass Wolle bedeutet. Die Sufis unterschieden sich äusserlich durch grobwollene Gewänder von den anderen Muslimen, die der damaligen Mode folgend sich in Seide und Brokat kleideten. Das wollene Kleid war Symbol des Verzichtes auf weltliche Werte und des Abscheus vor körperlicher Bequemlichkeit und weltlicher Gesinnung. Mystische Wahrnehmung gab es sicherlich in des Propheten Muhammadsaw Einstellung zu Allah; und das Wort mystisch ist ein ungeschmälertes Attribut für die Beschreibung der vielen Erfahrungen, die der Prophet Muhammadsaw mit einer übernatürlichen Anwesenheit machte, die durch ihn eine neue Botschaft an die Menschheit übermittelte. Der Koran, das Buch von Allahs Offenbarungen an Muhammadsaw, enthält zahlreiche Stellen mystischen Charakters, welche die Sufis eifrig aufgriffen, um damit ihren eigenen Anspruch auf persönlichen Verkehr mit Gott zu stützen.“ („Muslim Saints and Mystics“, Seite 1 und 2)

Weiter sagt Prof. A.J. Arberry:

“Die asketische Lebensweise, eine unentbehrliche Vorbereitung zu mystischer Vereinigung, kennzeichnete nicht nur das Leben von Muhammadsaw selbst, sondern auch dasjenige vieler seiner frühesten Anhänger. Auch dann noch, als die rasche Ausbreitung des Islams und die erstaunlichen militärischen Eroberungen benachbarter alter Königreiche ungeahnte Reichtümer in die islamische Staatskasse brachten, da waren es nicht wenige der führenden Männer des neuen Staates, die allen Versuchungen widerstanden und das herbe Wüstenleben nicht aufgaben, und ihm eiferten ganze Scharen niedrigeren Ranges nach. Nichtsdestoweniger, als im Laufe der Zeit und infolge weiterer Siege und schnell zunehmender Verflechtung des Staatsapparates der Islam immer mehr säkularisiert wurde, da drohte der ursprünglich asketische Impuls von der Flut der weltlichen Ereignisse erdrückt zu werden.“ (“Muslim Saints and Mystics“, Seite 2 und 3)

Der Heilige Prophetsaw hatte erklärt:

“Die beste Generation ist die meinige, die nächstbeste ist die folgende, und die drittbeste wird die darauf folgende sein; danach wird die Falschheit sich ausbreiten.“

Dieses Hadith zeigt, dass das erste Jahrhundert nach dem Auftreten des Prophetensaw das beste war, und dass jedes der zwei nächst folgenden Jahrhunderte um eine Stufe sinken, und am Ende des dritten Jahrhundert der eigentliche Verfall einsetzen werde; das war genau die Zeit, da sie Sufis als eine Klasse erschienen. Professor Arberry schreibt:

“Gegen das Ende des achten Jahrhunderts A.D. bildeten sich kleine Gruppen von Muslimen, die durch alle Prüfungen und Versuchungen hindurch gläubig und treu den hohen idealen der Väter geblieben waren. Ihre kleinen Gruppen bezweckten gegenseitige Ermutigung und Streben nach gemeinsamen Zielen. Diese Männer und Frauen (denn es gab auch gleichgesinnte Frauen) hielten sich fern von dem Wettrennen um weltliche Vorteile; und um ihre Jenseitigkeit zu verkünden, kleideten sie sich in raue Wollgewänder und bekamen deshalb des Spitznamen Sufi. Diese Kreise von Gottgeweihten und ausser ihnen viele Einsiedler erscheinen in verschiedenen Teilen des muslimischen Reiches.“ (“Muslim Saints and Mystics“)

Das ist ein erstaunliches Phänomen. Es war das Bedürfnis der Stunde, ein göttliche Vorsorge zum Schutz des Islams. Die Sufis vermehrten und vergrösserten die Anstrengungen der Gelehrten und besonders diejenigen der “Mujaddid“ d.h. der göttlich inspirierten Reformer, die in jedem Jahrhundert nach dem Prophetensaw erschienen.

Durch diese Milchstrasse von geistigen Sternen wurden die Wegweiser des rechten Pfades für die Gläubigen aufgestellt, – jetzt und damals, hier und dort. Gott sagt im Heiligen Koran:

“Und dies ist Mein Weg, der gerade, so folget ihm; und folget nicht den (anderen) Pfaden, damit sie euch nicht weitab führen von Seinem Weg. Das ist es, was Er euch gebietet, auf das ihr euch vor Bösem hütet.“ (6:154)

Das Buch der Führung, das den wahren Pfad zeigt, ist kein anderes als der Heilige Koran. Gott sagt:

“Und das ist ein Buch, das Wir niedergesandten – voll des Segens. So folget ihm, und hütet euch vor Sünde, auf dass ihr Barmherzigkeit findet.“ (6:156)

Die Lehren wahrhaftiger Sufis bleiben innerhalb des Rahmens des Islams. Farid al-Din Attar schreibt in seinem Vorwort zu „Tazkirah al Auliya“ (“Denkschrift an den Heiligen“), dass die von ihm gesammelten Aussagen der Heiligen einen Kommentar zum Heiligen Koran und zu den Überlieferungen bilden, die dem Publikum persischer Zunge zugänglich gemacht wurden. – Maulana Jallal-ud-Din Rumi, der grosse Mystiker, nennt sein berühmtes Werk “Mathnavi“ auch “Koran in persischer Sprache“, was eigentlich bedeutet: eine Darstellung des Heiligen Koran, in persischer Sprache. – Der gesamte Koran bildet die Grundlage des Sufitums, aber ganz besonders auf sich beziehen die Sufis die folgenden Verse:

Allah sagt:

“Und wenn Meine Diener dich nach Mir fragen, (sprich): Ich bin nahe, Ich antworte dem Gebet des Bittenden, wenn er zu mir betet. So sollten sie auf Mich hören und an Mich glauben.“ (2:187)

“Wahrlich, Wir erschufen den Menschen und Wir wissen alles, was sein Fleisch ihm zuflüstert; denn Wir sind ihm näher als die Halsader.“ (50:17)

“Alles, was auf (Erden) ist, wird vergehen. Aber es bleibt das Angesicht deines Herrn – der Herr der Majestät und der Ehre.“ (55:27)

Das Werk der Mystiker erstreckte sich auf beide Wirkungskreise: auf den inneren und den äusseren. Sie wirkten heilend auf die muslimische Gesellschaft und besserten viele Muslime. Gleichzeitig wurden auch die Nicht-Muslime im muslimischen Reich durch die Sufis näher oder gänzlich zum Islam geführt. Der äussere Wirkungskreis der Sufis lag ausserhalb der islamischen Länder, wo sie während einigen Jahrhunderten fast das Monopol für islamische Predigten hatten.

Um das Werk der Sufis zu illustrieren, möchte ich hier einige Beispiele erwähnen:

Beschr der Barfüssige, der später selbst ein grosser Sufi wurde, führte vorher in Bagdad ein sehr liederliches Leben. Einst torkelte er wieder betrunken die Strasse entlang. Dabei fand er ein Stück Papier, auf dem geschrieben stand: “Im Namen Allahs, des Gnädigen, des Barmherzigen.” Beschr kaufte sofort Rosen-Essenz, parfümierte damit das Papier und legte dieses an den Ehrenplatz seiner Wohnung. Während dieser Nacht hatte ein gewisser Heiliger Mann einen Traum, in dem er aufgefordert wurde, dem Beschr die folgenden Worte mitzuteilen:

“Du hat Meinen Namen parfümiert, also habe Ich dich parfümiert; du hast Meinen Namen erhoben, also habe Ich dich erhöht; du hast Meinen Namen geläutert, also habe Ich dich geläutert. Bei Meiner Majestät, Ich werde gewiss deinen Namen parfümieren, in dieser Welt und in der kommenden Welt.” Der Heilige dachte: – “Beschr ist ein liederlicher Bursche; vielleicht habe ich mich im Traum geirrt.” – Dann machte der Heilige die rituelle Waschung, betete und ging wieder schlafen. Aber eben denselben Traum sah er ein zweites und ein drittes Mal. Am Morgen ging er sofort auf die Suche nach Beschr. – “Der ist bei einem Weingelage.” – erfuhr der Heilige. Dieser ging zu dem betreffenden Haus und fragte: – “Ist Beschr hier?” – Die Auskunft lautete: – “Ja, aber er ist betrunken und also nicht zu sprechen.” – Darauf der Heilige: – “Meldet ihm, dass ich eine Botschaft für ihn habe.” – Als Beschr das hörte, fragte er: – “Eine Botschaft von wem?” – “Eine Botschaft von Gott,” – sagte der Heilige. – “O weh!” – schrie Beschr und brach in Tränen aus. – “Ist es eine Botschaft des Scheltens oder der Züchtigung? – Warte, bis ich mit meinen Freunden gesprochen habe.” – Dann wandte er sich an seine Trinkgenossen: – “Freunde! Ich habe einen Aufruf bekommen. Ich gehe. Lebet wohl! Ihr werdet mich nie wieder bei einem solchen Anlass sehen!” – Und seit diesem Tage lebte Beschr so heilig, dass niemand seinen Namen hörte, ohne dass ihm gleichzeitig himmlischer Friede ins Herz strömte. Beschr wählte den Weg der Selbstentsagung, und die Vision von Gott hatte ihn so überwältigt, dass er seine Füsse nie mehr in Schuhe steckte. Deshalb wurde er „Beschr der Barfüssige” genannt.

Ahmad ibn Hanbal, der Sammler der Tradition, die er in seinem berühmten Buche “Musad Ahmad” veröffentlichte, und der Gründer einer Rechtswissenschafts-Schule, der heute noch Millionen von Anhängern hat, besuchte Beschr den Barfüssigen oft und vertraute ihm dermassen, dass seine Schüler protestierten: – “Heute hast du nicht deinesgleichen als Gelehrter der Traditionen, der Gesetze, der Theologie und jeder Art von Wissenschaft, und dennoch gehst du immer zu Beschr. Ist das richtig?” Darauf antwortete Imam Ahmad ibn Hanbal: – “Tatsächlich, in allen von euch aufgezählten Wissenschaften habe ich bessere Kenntnisse als Beschr; er aber kennt Gott besser als ich.” – So ging er weiterhin zu Beschr und bat ihn: – “Erzähle mir doch etwas von meinem Herrn.” –

Quelle: Mushtaq Ahmad Bajwa, Sufitum im Islam, Verlag der Islam, 1997, S. 3-11