Islam und internationale Beziehungen

Die Geschichte der Menschheit enthüllt viele beklagenswerte Zeiten der Glaubenskriege, der Bigotterie und der religiösen Verfolgungen und Kämpfe. Nicht immer haben sich die Muslime in ihrer Handlungsweise anderen Völkern gegenüber in Übereinstimmung mit den Lehren des Islam befunden. Ihr Verhalten ist oft bedauerlich, manchmal sogar verwerflich gewesen.

Dies sind jedoch Beispiele ihres Zurückbleibens hinter den vom Islam aufgestellten Massstäben. Es kann kein Zweifel darüber bestehen, dass die Lehren des Islam vollständige Gewissensfreiheit, Toleranz und Achtung für die Bekenntnisse anderer verkünden und verlangen und damit eine der Hauptursachen für internationale Missverständnisse und Konflikte ausschliessen.

Dabei lässt es der Islam jedoch nicht bewenden. Er ermahnt die Muslime, tatkräftig nach Frieden zu streben.

“O die ihr glaubt, tretet alle ein in die Ergebung und folget nicht den Fussstapfen Satans; wahrlich, er ist euch ein offenkundiger Feind.” (2:209)

Er verurteilt streng das Verhalten dessen, der

“wenn er an der Macht ist, so läuft er im Land umher, um Unfrieden darin zu stiften und die Frucht und den Nachwuchs zu verwüsten; aber Allah liebt nicht Unfrieden.” (2:206)

Alles, was dazu angetan ist, internationale Spannungen zu erzeugen oder die internationalen Beziehungen zu trüben, wird zu vermeiden gesucht, und es ist unterstrichen worden, dass es Schaden anrichtet. Zum Beispiel werden die Muslime ermahnt, Gerüchten oder Nachrichten aus zweifelhafter Quelle keinen Glauben zu schenken, da Fahrlässigkeit in dieser Hinsicht Missverständnisse veranlassen und ein gespanntes Verhältnis zu einem anderen Volk hervorrufen könne.

Heutzutage ist es eine allgemeine Erfahrung, dass Gerüchte, die entweder der Absicht entspringen, Zwietracht zu säen, oder das Produkt einer zu lebhaften Einbildungskraft sind, manchmal zu internationalen Zwischenfällen führen oder sogar ernste internationale Krisen verursachen. Der Koran ermahnt die Muslime, in dieser Beziehung äusserst vorsichtig zu sein.

“O die ihr glaubt, wenn ein Ruchloser euch eine Kunde bringt, prüft (sie) nach, damit ihr nicht anderen Leuten in Unwissenheit ein Unrecht zufügt und hernach bereuen müsst, was ihr getan.” (49:7)

Gleichzeitig wird die Neigung, alle Arten von Nachrichten zu verbreiten – auch jene, die bewirken können, die Gemüter zu erregen und die öffentliche Meinung zu beunruhigen – verurteilt.

“Und wenn etwas von Frieden oder Furcht zu ihnen dringt, verbreiten sie es; hätten sie es aber vor den Gesandten und vor jene gebracht, die unter ihnen Befehlsgewalt haben, dann würden sicherlich die unter ihnen, die es entschleiern können, es verstanden haben. Und wäre nicht Allahs Gnade über euch und Seine Barmherzigkeit, ihr wäret alle dem Satan gefolgt, bis auf einige wenige.” (4:84)

Einer der Faktoren, die oft zu internationalen Missverständnissen und Spannungen beitragen, ist die Anwendung zweideutiger und doppelsinniger Ausdrucksweise in diplomatischen Noten und Verhandlungen. Die Verwendung einer derartigen Ausdrucksweise in Verträgen, Vereinbarungen und Übereinkommen gibt zu Streit über ihre Bedeutung und Auslegung Anlass und sie verleitet oft Staaten und Regierungen dazu, die Aufrichtigkeit und Rechtschaffenheit ihrer Absichten gegenseitig zu beargwöhnen.

Der Koran besteht auf Anwendung der rechten Ausdrucksweise bei allen Gelegenheiten, insbesondere bei Verträgen, Bündnissen, Obereinkommen, Verhandlungen usw.

“O ihr die ihr glaubt! Fürchtet Allah, und redet das rechte Wort. Er wird eure Werke recht machen für euch und eure Sünden vergeben.” (33:71-72)

Ein anderer wesentlicher Umstand, der dazu angetan ist, den glatten Ablauf der internationalen Politik zu hemmen und Störungen zu verursachen, ist ein Verhalten, das mit Verpflichtungen, verkündeten politischen Grundsätzen und Beteuerungen unvereinbar ist.

Wenn die Regierenden eines Staates gewisse Ziele ihrer Politik und gewisse Ideale gewohnheitsmässig weiter proklamierten und in ihrer Handlungsweise gegenüber anderen Staaten fortwährend hinter diesen Idealen zurückblieben, gäbe ihr Verhalten Anlass, ihre Motive anzuzweifeln, und im Falle starker und mächtiger Staaten könnte es Furcht vor ihren Plänen erwecken. Deshalb betont der Koran die Notwendigkeit vollständiger Übereinstimmung des Verhaltens mit Beteuerungen und Erklärungen.

“O die ihr glaubt, warum sagt ihr, was ihr nicht tut? Höchst hassenswert ist es vor Allah, dass ihr sagt, was ihr nicht tut.” (61:3-4)

Die Muslime werden davor gewarnt, die Motive anderer Völker unnötig zu beargwöhnen und Vorwände für Streit und Misshelligkeiten zu suchen.

“O die ihr glaubt! Vermeidet häufigen Argwohn, denn mancher Argwohn ist Sünde. Und belauert nicht und führt nicht üble Nachrede übereinander.” (49:13)

Anmassendes Verhalten eines stärkeren Volkes gegenüber einem schwächeren verursacht oft lokale oder internationale Spannungen und Schwierigkeiten. Dies wird verurteilt und verboten.

“O die ihr glaubt! Lasset nicht ein Volk¸über das andere spotten, vielleicht sind diese besser als jene.“ (49:12)

Politische Beherrschung eines Volkes durch ein anderes und wirtschaftliche Ausbeutung zurückgebliebener Völker und unterentwickelter Länder durch fortgeschrittene Völker und besser entwickelte Länder waren, wie wir durch einen Blick auf die letzten Jahrhunderte feststellen können, ergiebige Ursachen für die Störung internationaler Beziehungen und erzeugten Druck und Spannungen, die fortfahren, verschiedene Teile der Bevölkerung zu trennen. Solche Beherrschung und Ausbeutung werden im Koran ganz entscheiden verurteilt.

Es wird darauf hingewiesen, dass Gott die Aufteilung Seiner Geschöpfe in Gruppen zur Beherrschung einiger durch andere nicht gutheisst und dass, wo immer solch ein Versuch unternommen wird, Gottes Absicht den Aufschwung der Unterdrückten bewirkt. In diesem Zusammenhang sei das Beispiel Pharaos und seiner Behandlung des Volkes Israel angeführt.

“Siehe, Pharao betrug sich hoffärtig im Land und teilte das Volk darin in Gruppen: einen Teil von ihnen versuchte er zu schwächen, … Fürwahr, er war einer der Unheilstifter! Und Wir wünschten, denen, die im Land als schwach erachtet worden waren, Huld zu erweisen und sie zu Führern zu machen und zu Erben einzusetzen, und sie festzusetzen im Land.“ (28:5-7)

Wirtschaftliche Ausbeutung eines Volkes oder Landes durch ein anderes ist also verboten, und es wird darauf hingewiesen, dass dasjenige Wirtschaftssystem sich als besonders gedeihlich und beständig erweisen würde, das auf der Entwicklung der eigenen Quellen eines Volkes aufgebaut ist, nicht auf der Ausbeutung der Quellen anderer Völker.

“Und richte deine Blicke nicht auf das, was Wir einigen von ihnen zu (kurzem) Genuss gewährten – den Glanz des irdischen Lebens –, um sie dadurch zu prüfen. Denn deines Herrn Versorgung ist besser und bleibender.“ (20:132)

Als der Heilige Prophetsaw des Islam und seine kleine Anhängerschar, die während einer Anzahl von Jahren in Mekka grausam und gnadenlos verfolgt worden waren, schliesslich gezwungen wurden, Mekka zu verlassen und nach Medina zu ziehen, begannen die Quraisch von Mekka, in ganz Arabien Widerstand und Feindschaft gegen den Prophetensaw und die Muslime zu organisieren und militärische Vorbereitungen für die gewaltsame Ausrottung des Islam zu treffen.

Der Prophetsaw war von den Bewohnern Medinas, die aus muslimischen und nichtmuslimischen Arabern und gewissen jüdischen Stämmen bestanden, zu ihrem Oberhaupt gewählt worden. Zwischen den verschiedenen Elementen der Bevölkerung von Medina und dem Heiligen Prophetensaw wurde daher der Abschluss eines Vertrages erforderlich, der für alle Teile des Gemeinwesens Medina, das damit begründet wurde, bindend sein sollte.

Als der Prophetsaw erfuhr, dass die mekkanischen Widersacher des Islam tatkräftig um Beistand gegen die Muslime warben, schloss er eine Reihe von Verträgen und Übereinkommen mit Stämmen ab, die gewillt waren, Beziehungen zu ihm aufzunehmen. Zweck dieser Abmachungen war, den Frieden unter den Stämmen zu bewahren und Sicherheit zu garantieren.

In den schwierigsten Situationen veranschaulichte der Prophetsaw durch sein Vorbild die islamischen Lehren von der Unverletzlichkeit der Verträge und Verpflichtungen und ihrer vollständigen und gewissenhaften Erfüllung.

Im Koran wird sehr grosser Nachdruck auf dieses Problem gelegt. Der Islam besteht auf voller Vertragseinhaltung durch einen islamischen Staat sogar dann, wenn genaue Beachtung dazu führen würde, sich zum Nachteil des islamischen Staates auszuwirken. Diese Verpflichtung erstreckt sich nicht nur auf die Handlungsweise gegenüber Staaten, die in einem direkten Vertragsverhältnis zu dem islamischen Staat stehen, sondern auch auf die Handlungsweise ihren Verbündeten gegenüber. Selbst wenn sich erweisen sollte, dass die Gegenseite zu Annullierung oder Bruch des Vertrages entschlossen ist, darf der islamische Staat den Vertrag nicht für ungültig erklären, ausser nach rechtmässiger Kündigung, die gewährleisten soll, dass der Vertragspartner keinen Nachteil oder Verlust erleidet.

Mit anderen Worten, ein islamischer Staat darf keine militärischen Vorbereitungen gegen einen Staat, zu dem er in einem Vertragsverhältnis steht, einleiten, nicht einmal, wenn er von den bösen Absichten oder verräterischen Plänen dieses Staates überzeugt ist, ausser nach gebührender Bekanntgabe, dass sich der islamische Staat – wegen der tatsächlichen oder deutlich beabsichtigten Vertragsübertretung oder -verletzung – von einem bestimmten Termin ab als nicht mehr an den Vertrag gebunden betrachtet. Damit wird bezweckt, Zeit für das Beiseiteräumen eines etwaigen Missverständnisses oder für eine Vertragsverlängerung, falls eine solche ratsam sein sollte, zur Verfügung zu stellen und schliesslich zu gewährleisten, dass die andere Partei nicht überrascht wird und ebenso viel Zeit verfügbar hat wie der islamische Staat, um Sicherheitsmassnahmen und andere Vorkehrungen zu treffen, nachdem sich gezeigt hat, dass der Vertragspartner beabsichtigt, die von ihm übernommenen Verpflichtungen nicht mehr einzuhalten.

“Und wenn du von einem Volk Verräterei fürchtest, so verwirf (den Vertrag) gegenseitig. Wahrlich, Allah liebt nicht die Verräter.“ (8:59)

Es gehört zu den Verpflichtungen eines Muslim-Staates, wegen ihres Glaubens verfolgten Muslimen zu Hilfe zu kommen. Jedoch unterliegt sogar diese Verpflichtung der strikten Einhaltung bestehender Verträge und Übereinkommen.

“Suchen sie (das heisst, jene Muslime, die wegen ihres Glaubens verfolgt werden) aber eure Hilfe für den Glauben, dann ist Helfen eure Pflicht, ausser gegen ein Volk, mit dem ihr ein Bündnis habt. Allah sieht euer Tun.“ (8:73)

Der Islam hält Krieg für anormal und erlaubt seine Anwendung nur in Ausnahmefällen, deren hauptsächlichster der Einhalt von Aggression ist. Wenn einem Muslim-Staat der Krieg aufgezwungen wird, ist sein Ausmass weitestgehend zu beschränken, und seine Ausdehnung über unvermeidbare Grenzen hinaus sollte verhindert werden.

Mit den Worten des Korans ist ein Versuch, Krieg zu beginnen, ein Versuch, eine Feuersbrunst zu entfachen. Der Koran sagt, dass, wenn immer zu Unheil und Unordnung entschlossene Menschen versuchen, den Kriegsbrand zu entzünden, Gott ihn löscht.

“Sooft sie ein Feuer für den Krieg anzünden, löscht Allah es aus, und sie trachten nur nach Unheil auf Erden; und Allah liebt die Unheilstifter nicht.“ (5:65)

Damit wird betont, dass Krieg ein verderbliches Unterfangen ist und alle Anstrengungen gemacht werden müssen, ihn zu begrenzen und so bald wie möglich zu beenden.

Quelle: Sir Muhmmad Zafrullah Khan, Islam und internationale Beziehungen, Verlag der Islam, 2005, S.13-23