Mut, Wahrheit, Geduld und Mitleid

Wahre Tapferkeit (Mut)


Unter den natürlichen Zuständen des Menschen gibt es jenen, der dem Mut ähnlich ist, so wie ein kleines Kind manchmal mit seiner Hand ins Feuer zu greifen sucht in seinem natürlichen Zustand von Furchtlosigkeit.

In diesem Zustand widersetzt sich der Mensch kühn und furchtlos den Löwen und anderen wilden Tieren, und bei Kämpfen stellt er sich allein gegen ein Heer, und man weiss, dass er Mut besitzt. Aber es handelt sich hier eher um einen natürlichen Zustand, der auch bei wilden Raubtieren und selbst auch bei Hunden zu beobachten ist. Wahre Tapferkeit zeigt sich nur nach reifer Überlegung und nach Betrachten der Zweckmässigkeit, und erst dann kann sie als die edle und erhabene moralische Eigenschaft “Tapferkeit“ bezeichnet werden.

Das Heilige Wort Gottes nimmt Bezug auf die Entfaltung der moralischen Eigenschaft bei passender Gelegenheit wie folgt:

“Wahrhaftig tapfer sind die, welche in Kriegszeit und Trübsal standhaft bleiben.“ (2:178)

“Ihre Standhaftigkeit in Widerwärtigkeit beweisen sie nur, um Gottes Wohlgefallen zu gewinnen, nicht um etwa ihre eigene Tapferkeit unter Beweis zu stellen.“ (13:23)

“Wenn Menschen zu ihnen sagten: ‘Es haben sich Leute gegen euch geschart, fürchtet sie drum‘ – so stärkte sie dies nur in ihrem Glauben, und sie sprachen: ‘Unsere Genüge ist Gott…‘.“ (3:174)

Ihr Mut gleicht nicht der Verwegenheit der Hunde oder wilder Tiere. Er ist nicht von den natürlichen Leidenschaften abhängig und somit nur in eine einzige Richtung zielende mechanische Bewegung, sondern der Mut der Tapferen birgt zwei Aspekte. Mit seiner Hilfe überwinden sie einmal die fleischlichen Begierden, und ein anderes Mal widersetzen sie sich dem Angriff des Feindes, wo es ratsam ist, doch brüsten sie sich nicht mit ihrer Kraft, sondern stehen treu im Dienst der Wahrheit. Überdies vertrauen sie nicht ihrem eigenen Selbst, sondern setzen ihr Vertrauen in Gott, während sie ihre Tapferkeit an den Tag legen.

“Die wahrhaft Tapferen entfalten ihren Mut nicht prahlerisch oder stellen ihn für andere zur Schau. Ihr einziger Beweggrund ist vielmehr das Wohlgefallen Gottes.“ (8:48)

Diese Verse verdeutlichen, dass der wahre Mut seine Wurzel in Geduld und Standhaftigkeit hat. Seinen Leidenschaften zu widerstehen und standhaft zu bleiben angesichts einer Trübsal, die über einen wie der Angriff eines Feindes hereinbricht, und nicht wie ein Feigling einer Gefahr zu entfliehen – darin liegt die wahre Tapferkeit.

Der Unterschied zwischen dem Mut eines Menschen und dem eines wilden Tieres ist erheblich. Das Raubtier handelt nur einseitig, einem bedingungslosen Instinkt gehorchend, während der wahrhaftig tapfere Mensch die Wahl zwischen Widerstand und Nachgeben trifft, indem er die Umstände sorgfältig abwägt.

Wahrheitsliebe

Eine der natürlichen Veranlagungen des Menschen ist Wahrheitsliebe. Solange er nicht durch selbstsüchtige Motive dazu bewegt wird, hat der Mensch keinen Wunsch zu lügen. Er bringt der Falschheit eine gewisse Abneigung entgegen und zögert, sich ihrer zu bedienen. Aus diesem Grunde mag er einen Mitmenschen nicht, von dem es klar erwiesen ist, dass er sich einer Lüge bedient hat, sondern verachtet ihn. Aber diese natürliche Neigung allein kann nicht als eine moralische Eigenschaft gewertet werden. Sogar Kinder und geistig Behinderte üben sie aus.

Solange sich der Mensch von jenen Zielen nicht lossagt, die ihn daran hindern, die Wahrheit zu sagen, kann er nicht als wahrheitsliebend betrachtet werden. Denn, wenn er nur dort die Wahrheit sagt, wo die Wahrhaftigkeit ihm keinerlei Verlust bedeutet, und wenn er dort lügt oder die Wahrheit verschweigt, wo seine Ehre, sein Eigentum oder Leben in Gefahr sind, ist er nicht besser als die Kinder oder die Schwachsinnigen, denn sagen nicht auch die geistig Behinderten und Kleinkinder solche Wahrheit? In der Welt gibt es wohl kaum jemanden, der die Unwahrheit ohne Beweggrund spricht. Die Wahrhaftigkeit, die man aufgibt, um einem Verlust zu entgehen, ist keine echte moralische. Die echte Gelegenheit, die Wahrheit zu sagen, ist diejenige, bei der man den Verlust von Leben, Eigentum und Ehre befürchten muss. Diesbezüglich lehrt Gott folgendes:

“Meidet darum die Greuel der Götzen, und meidet das Wort der Lüge.“ (22:31)

Dies zeigt, dass auch Unwahrheit ein Götze ist, und wer einem Götzen vertraut, der vertraut nicht Gott, denn durch eine Lüge verliert man auch Gott.

Weiter heisst es:

“Wenn ihr gerufen werdet, die Wahrheit zu bezeugen, so sollt ihr euch nicht weigern… Und haltet nicht Zeugenschaft zurück; wer sie verhehlt, gewiss, dessen Herz ist sündhaft.“ (2:283, 284)

“Und wenn ihr einen Spruch fällt, so sprecht nur das, was ganze Wahrheit ist, und übt Gerechtigkeit, auch wenn es einen nahen Verwandten betrifft.“ (6:153)

“Seid fest in Wahrung der Gerechtigkeit und Wahrheit, und seid Zeugen nur für Gott, mag es auch gegen euch selbst oder gegen eure Eltern und Verwandten, wie Kinder usw. gerichtet sein.“ (4:136)

“Und die Feindseligkeit eines Volkes soll euch nicht zur Ungerechtigkeit und Unwahrheit verleiten.“ (5:9)

“Die wahrhaftigen Männer und die wahrhaftigen Frauen… Gott hat ihnen Vergebung und herrlichen Lohn bereitet.“ (33:36)

“Und einander zur Wahrheit mahnen…“ (103:4)

“Diejenigen, die der Gesellschaft der Lügner nicht beiwohnen.“ (25:73)

Geduld

Unter den moralischen Eigenschaften, die sich aus den natürlichen Zuständen herausbilden, ist Sabr oder “Geduld, die man bei Schwierigkeiten, Krankheiten und Trübsal“ – dem unvermeidlichen Los aller Menschen – zeigt. Nach langem Trauern und Leiden lässt der Kummer nach, und man söhnt sich mit der Zeit mit den Schwierigkeiten aus. Aber es muss uns klar sein, dass dieses Sich-Fügen nicht mit der moralischen Eigenschaft der Geduld zu verwechseln ist, wie uns auch das Heilige Buch Gottes lehrt.

Solche Befriedigung ist eine natürliche Folge der Ermüdung. Es ist natürlich, dass der Mensch unter der Last der Bedrückung zunächst weint und stöhnt, und am Ende, nachdem er seinem Leid Ausdruck verliehen hat, verebbt der erste Schmerz, und eine Beruhigung setzt ein.

Diese beiden Haltungen sind somit natürliche Zustände, die in keinem Sinne die moralische Eigenschaft (Geduld) ausmachen. In diesem Zusammenhang besteht die erhebliche moralische Eigenschaft darin, dass man einen Verlust so betrachtet, als hätte man Gott das zurückgegeben, was Er einst gegeben hatte, so dass wir mit Seinem Willen zufrieden sind. Vielmehr sollte man sich sagen, dass es eine Gabe Gottes war, die Er zurückgenommen hat, so dass man sich dem Ratschluss Gottes fügt. Mit Bezug auf diese moralische Eigenschaft sagt der Koran:

“Wir werden euch prüfen bald mit Furcht, bald mit Hunger, mit Verlust an Gut und Leben und Früchten, (d. h. durch Misserfolge eurer Anstrengungen und Tod eurer lieben Kinder). So gib frohe Botschaft den Geduldigen. Die, wenn ein Unglück sie trifft, sagen, ‘Gewiss, Gottes Schöpfung und Sein Gut und Eigentum sind wir, und zu Ihm kehren wir heim‘. Sie sind’s, auf die Gnade und Segen träuft von ihrem Herrn, und die rechtgeleitet sind.“ (2:156-158)

Diese moralische Eigenschaft heisst Standhaftigkeit oder Geduld und Sich-Fügen in den Willen Gottes. In einem anderen Sinne heisst sie auch Gerechtigkeit. Denn, wenn Gott im Laufe des Lebens eines Menschen Tausende von seinen Wünschen erfüllt und ihm so viel an lebenswichtigen Gütern und Dingen beschert hat, und uns in unserem Leben so häufig Seine Gnaden, die wir unmöglich aufzählen können, auf allerlei Arten erweist, wäre es höchst ungerecht, sollte man sich noch über Unbill beklagen, oder sich deswegen von Seinem Wege abwenden und mit Seinem Willen nicht zufrieden sein, wenn Gott einmal nach Seinem eigenen Willen handelt.

Mitleid

Eine andere Eigenschaft, die der Natur des Menschen entspricht, ist Mitleid für die Schöpfung Gottes. Angehörige jeder Nation und Anhänger jeder Religion hegen natürlich Gefühle für ihre eigenen Leute und gehen manchmal so weit, dass sie oft bedenkenlos den anderen Unrecht zufügen, als wären diese keine Menschen. Dieser Eifer des Mitgefühles kann jedoch nicht als moralische Eigenschaft gewertet werden, sondern sie ist eine instinktive Veranlagung, die wir selbst bei den Vögeln, besonders bei Raben wahrnehmen, wo der Tod eines Artgenossen Tausende zusammenführt.

Um als moralische Eigenschaft bezeichnet werden zu können, muss das Mitgefühl den Grundsätzen der Gerechtigkeit und Billigkeit entsprechen und auch bei passender Gelegenheit Ausdruck finden. Nur dann wird dies als eine hohe moralische Eigenschaft gelten, wie es der arabische und persische Ausdruck Mawasat bzw. Hamdardi (Mitleid) hervorheben. Gott weist im Heiligen Koran auf diese Eigenschaft in den folgenden Versen hin:

“Helfet einander nur in Sachen der Rechtschaffenheit und Frömmigkeit; aber helfet einander ja nicht, um Unrecht und Übertretung zu fördern.“ (5:3)

“Lasset nicht nach in eurem Eifer für euer Volk.“ (4:105)

“Und seid nicht Verfechter der Treulosen.“ (4:106)

“Und verteidige nicht diejenigen, die ihre Treulosigkeit nicht ablegen. Gott liebt keinen, der ein Betrüger, ein grosser Sünder ist.“ (4:108)

Quelle: Der Verheissene Messiasas: Mirza Ghulam Ahmad, Die Philosophie der Lehren des Islams, Verlag Der Islam, 3. Auflage, S. 103-110