Die islamische Gesellschaft

Betrachten wir die so wichtige Verfassung, jenes grundlegende Gesetz, das die politischen, exekutiven, legislativen und juridischen Funktionen des Staates festlegt. Der Koran hat die wichtigsten Prinzipien mit grossem Nachdruck gegeben, aber es dem betreffenden Volk überlassen, sie in Übereinstimmung mit seinen besonderen Erfordernissen und Verhältnissen zu verwirklichen. 

Die Grundprinzipien werden folgendermassen ausgedrückt: 

“Wahrlich, Allah gebietet euch, dass ihr Vertrauenssachen denjenigen übergebt, die ihrer würdig sind, und wenn ihr zwischen Menschen richtet, dass ihr richtet nach Gerechtigkeit. Fürwahr, herrlich ist, wozu Allah euch ermahnt. Allah ist allhörend, allsehend.“ (4:59)

Von diesem eindringlichen Befehl lässt sich deutlich auf mehrere Grundsätze schliessen. Zunächst, dass unter Gottes Leitung die Souveränität beim Volke liegt. Es ist Sache des Volkes, mit den verschiedenen Arten staatlicher Autorität Personen zu betrauen, die dafür am geeignetesten erscheinen. Damit wird auf den sehr wichtigen Grundsatz aufmerksam gemacht, dass Ausübung des Wahlrechtes und Tätigkeit in Volksvertretung, Exekutive und Justiz alle gleichsam eine unverletzliche Pflegschaft sind und in diesem Sinne ausgeführt werden müssen. Diese Ermahnung trägt sofort die Politik vom Kampfplatz der Kontroversen, Kämpfe und niedrigen Machenschaften in die gehobene Sphäre moralischer und geistiger Aufgaben. Die richtige Ausübung des Wahlrechtes ist der Schlüssel zum erfolgreichen Funktionieren der Demokratie. Dies wird im Koran in befehlenden Worten betont. Danach wird die Unabhängigkeit und Unversehrbarkeit des Richteramtes unterstrichen. 

Der Vers geht weiter, indem er die Muslime ermahnt. Sie könnten von Zeit zu Zeit versucht sein, von diesen Grundsätzen abzuweichen, aber sie täten gut daran, sie immer zu befolgen, denn “Gottes Ermahnung bietet die beste Führung“. 

Am Ende steht die Mahnung, dass Gott allhörend, allsehend. ist. Er ist immer wachsam. Er hört das Wehklagen der Gequälten und Unterdrückten und beobachtet das Verhalten aller Seiner Geschöpfe. Wir dürfen weder erwarten, die Wohltaten einer Ordnung zu geniessen, die wir nicht in die Praxis umsetzen, noch können wir hoffen, den Wirkungen und Strafen zu entgehen, die aus Sünden entspringen, insbesondere nicht im Zusammenhang mit der Erfüllung einer so heiligen Verpflichtung wie der Ausübung einer gütigen und wohlwollenden Regierung über Seine Geschöpfe und der Fürsorge für ihre Wohlfahrt und ihren unaufhörlichen Fortschritt. 

Über die aufgestellten Grundsätze und die dargebotene Führung hinaus trifft der Koran auch Vorsorge für die Ausbildung von Muslimen zur Erfüllung dieser Aufgaben. Der Heilige Prophetsaw wurde ermahnt, seine Entscheidungen nach Aussprache und Beratung mit Beauftragten der Muslime zu fällen. 

“Es geschieht um Allahs Barmherzigkeit willen, dass du zu ihnen milde bist; und wärest du schroff (und) hartherzig gewesen, sie wären gewiss rings um dich zerstoben. So verzeih ihnen und erbitte Vergebung für sie; und ziehe sie zu Rate in Sachen der Verwaltung; wenn du aber dich entschieden hast, dann setze dein Vertrauen auf Allah. Wahrlich, Allah liebt die auf Ihn Vertrauenden.“ (3:160)

Gemeinsame Aussprache und Beratung werden im Koran als Merkmal der Muslime beschriebene: 

“Und die auf den Herrn hören und das Gebet verrichten und deren Handlungsweise (eine Sache) gegenseitiger Beratung ist, und die spenden von dem, was Wir ihnen bereitet haben.“ (42:39)

Diesem System und dieser Ausbildung ist es zu verdanken, dass in den Anfangsjahren des Islams so viele ungebildete Wüstenbewohner binnen kurzer Zeit in überaus leistungsfähige Regierungs- und Verwaltungsbeamte verwandelt wurden. 

Von weit grösserer Bedeutung als diese wesentlichen politischen Grundsätze wie Verfassung usw. ist jedoch heute die Frage: „Welche Gesellschaftsordnung erstrebt der Islam?“ 

Neunhundert Millionen Muslims sind ein sehr wesentlicher Teil der Gesamtbevölkerung der Erde. Im Grossen und Ganzen waren die letzten Jahrhunderte eine Zeit des Niedergangs für die muslimische Welt. Aber sie erwacht gegenwärtig und gibt vermehrte Anzeichen dafür, dass sie sich ihrer Stellung in der Welt – oder vielmehr ihres Mangels an Stellung – bewusst wird. Auf der Suche nach Grundsätzen und Methoden – oder nach einer „Ideologie“, um ein jetzt viel verwendetes Modewort zu gebrauchen – können die bedeutenderen Denker der muslimischen Welt nicht umhin, sich den eigentlichen Quellen der Führung im Islam – dem Koran und dem Lehren und Wirken des Heiligen Prophetensaw – zuzuwenden. 

Die Beantwortung der eben von mir gestellten Frage kann sehr umfangreich werden. Ich werde mich aber auf einen kurzen Überblick für den durchschnittlichen Abendländer beschränken. Der Gelehrte weiss bereits sehr viel mehr über diese Dinge, als ich für mich in Anspruch nehmen kann. Ich denke, dass wir in diesen Erörterungen weniger beabsichtigen, Gelehrsamkeit und Forschung anzuregen, als vielmehr ein besseres Verständnis für Werte zu fördern, die, besonders in einer Zeit der Spannungen und Krisen, als letzter Ausweg geeignet sind, das Denken und Verhalten der Menschen zu beeinflussen. 

Der grundsätzliche Mittelpunkt im Islam – oder die “Doktrin“, wenn Ihnen dieser Ausdruck besser zusagt – ist die Einheit Gottes. Alles andere, kann man sagen, stammt davon ab. Gott ist Eins: Er ist auch Einheit. Alles geht aus Ihm hervor und ist für seine Erhaltung, seine Ernährung und seinen Fortschritt von Ihm abhängig. 

Alle Menschen sind Seine Geschöpfe und Diener. Der Islam erkennt keine auf Rasse, Abstammung, Farbe, Stellung, Besitz oder dergleichen beruhenden Vorrechte an. Der Grad an Gerechtigkeit im Leben eines Menschen ist gewissermassen das einzige Adelsabzeichen. 

“O ihr Menschen, Wir haben euch von einem Manne und einem Weibe erschaffen, und Wir haben euch zu Völkern und Stämmen gemacht, dass ihr einander kennen möchtet. Wahrlich, der Angesehenste von euch ist vor Allah der, der unter euch der Gerechteste ist. Siehe, Allah ist allwissend, allkundig.“ (49:14)

Im Universum besteht grundsätzlich Einklang. Damit wird Gottes Macht und Herrschaft betont. 

“Gesegnet ist Der, in Dessen Hand die Herrschaft ist; und Er vermag alle Dinge zu tun. Der den Tod erschaffen hat und das Leben, dass Er euch prüfe, zu zeigen, wer von euch der beste ist im Handeln; und Er ist der Allmächtige, der Verzeihende, Der sieben Himmel im Einklang erschaffen hat. Keinen Fehler kannst du in der Schöpfung des Gnadenreichen sehen. So schaue zum anderen Mal: siehst du irgendeinen Mangel? So schaue abermals und abermals: dein Blick wird (nur) zu dir zurückkehren ermüdet und geschwächt.“ (67:1-5)

Der Mensch und das Weltall sind zu einem Zweck erschaffen worden! 

“Wir haben die Himmel und die Erde und alles, was zwischen beiden ist, nicht anders erschaffen als in Wahrheit und auf eine bestimmte Zeit; die aber ungläubig sind, die wenden sich ab von dem, wovor sie gewarnt werden.“ (46:4)

Zweck der Schöpfung ist, Übereinstimmung zu erzielen und Gerechtigkeit und Gleichgewicht durch ein Gesetz zu begründen. 

“Wahrlich, Wir schickten Unsere Gesandten mit klaren Beweisen und sandten mit ihnen das Buch und die Waage herab, auf dass die Menschen Gerechtigkeit üben möchten.“ (55:26)

Der Islam lehrt, dass der Mensch als solcher – nicht irgendein bestimmter Mensch oder eine Gruppe – Gottes Statthalter auf Erden ist. 

“Er ist es, Der euch zu Nachfolgern (anderer) auf der Erde machte und die einen von euch über die anderen erhöhte um Rangstufen, damit Er euch prüfe durch das, was Er euch gegeben.“ (6:166)

Das Universum und alles, was es enthält, ist dem Menschen dienstbar gemacht worden. 

“Allah ist es, Der die Himmel und die Erde erschuf und Wasser niederregnen liess von den Wolken und damit Früchte hervorbrachte zu eurem Unterhalt, und Er hat euch die Schiffe dienstbar gemacht, dass sie das Meer durchsegeln nach Seinem Gebot, und Er hat euch die Flüsse dienstbar gemacht. Und dienstbar machte Er euch die Sonne und den Mond, die unablässig ihren Lauf Vollziehenden. Und dienstbar machte Er euch die Nacht und den Tag. Und Er gab euch alles, was ihr von Ihm begehrtet; und wenn ihr (versucht), Allahs Wohltaten zu zählen, ihr werdet nicht imstande sein, sie zu berechnen.“ (14:33-35)

Der Islam geht von der grundlegenden Tatsache aus, dass die Urquellen des Reichtums – die Erde mit ihren Möglichkeiten und Schätzen, die Himmelskörper, die Atmosphäre, das Klima usw. – Gottes Gaben an die ganze Menschheit sind und ihr unterstellt und dienstbar gemacht wurden. Sie können daher nicht Eigentum sein. 

Güter werden erzeugt, indem diese Quellen nutzbar gemacht und die notwendigen Kenntnisse und Fertigkeiten auf diese Nutzbarmachung angewandt werden. Hierzu sind Talent, Kapital und Arbeit aufzuteilen, und die Gemeinschaft als Ganzes, als Vermächtnisnehmerin der Gaben Gottes, die ja die Urquellen allen Reichtums sind, muss auch an ihm teilhaben. Dieser Anteil der Gemeinschaft wird durch eine Kapitalsteuer, die Zakaat, sichergestellt. Die Wurzel des Wortes ist Zakka, das bedeutet „er reinigte“ oder „er förderte“. 

Diese Steuer hat beide Eigenschaften. Indem sie den Anteil der Gemeinschaft absondert, reinigt sie den Rest und macht ihn rechtmässig für die Aufteilung unter Talent, Kapital und Arbeit. Die Einnahmen aus dieser Steuer sind zur Förderung der Wohlfahrt der Gemeinschaft zu verwenden, zum Beispiel für die Linderung von Armut und Not, für die Durchführung dem Allgemeinwohl dienender öffentlicher Arbeiten, für den Unterhalt von Gelehrten und Forschern und jenen, die sich dem Dienst an der Menschheit widmen, für die Bereitstellung von Kapital für solche, die nützliche Begabungen besitzen, sie aber wegen Mittellosigkeit nicht auswerten können, und für ähnliche Zwecke. 

So bezeichnet der Koran den Zweck der Zakaat: 

“Nimm Almosen von ihrem Besitz, auf dass du sie dadurch reinigen und läutern mögest.“ (9:103)

Die Zakaat ist eine vom Staat erhobene gesetzliche Steuer, die von öffentlicher und privater Wohltätigkeit, zu der die Muslims auch wiederholt und nachdrücklich im Koran aufgefordert werden, zu unterscheiden ist. 

Bezüglich der Benutzung und Verwendung des Reichtums erstrebt der Islam die möglichst weitgehende Aufteilung und ständige Zirkulation. Die eben erwähnte Zakaat ist eines der Mittel, eine solche Verteilung und Verbreitung zu gewährleisten. Der Nachdruck auf öffentlicher und privater Mildtätigkeit ist ein anderes (4:37-38; 2:262-275). Es gibt jedoch noch andere Vorschriften mit demselben Ziel. 

Horten und Zurückhalten von Geld und Gut, Bakhala, werden als verabscheuungswürdige Sünden, die ihre eigenen Absichten vereiteln und schwere Strafen nach sich ziehen, strengstens verurteilt (9:34-35; 4:37-38). Auf uneingeschränkte und grosszügige Verwendung von Geld, Begabung und Wissen “auf Gottes Weg“, also für den Dienst an der Menschheit, wird als unerlässliches Mittel zur Förderung individuellen und nationalen Gedeihens Wert gelegt. 

“Siehe, ihr seid diejenigen, die berufen sind, in Allahs Weg zu spenden; doch unter euch sind manche, die geizig sind. Und wer geizig ist, der geizt nur gegen sich selber; denn Allah ist der Unbedürftige, und ihr seid es, die bedürftig sind. Und wenn ihr den Rücken kehrt, so wird Er ein anderes Volk an eure Stelle setzen, dann werden sie nicht gleich euch sein.“ (47:39)

Der Zins ist verboten: er schränkt den Umlauf des Geldes ein, häuft es zum Besitz weniger Menschen an und fördert Kriege (2:276-280). Eine andere Einrichtung, die darauf abzielt, die Anhäufungen von Sachwerten oder Geld aufzulösen und eine weitgehende Verteilung zu sichern, ist das islamische Erbschaftssystem. Zu Lebzeiten darf man – vorbehaltlich der vom Islam betonten Grundsätze der Nächstenliebe und Wohltätigkeit – nach Belieben über sein Eigentum verfügen. In Bezug auf den Nachlass ist jedoch die Verfügungsgewalt genau begrenzt. Im Testament darf über nicht mehr als höchstens ein Drittel des Eigentums verfügt oder die Verwendung für wohltätige oder andere Zwecke bestimmt werden. Was übrig bleibt, nachdem die Bestimmungen des Testamentes erfüllt sind – zwei Drittel oder mehr –, muss in festgesetzten Anteilen unter die Erben verteilt werden. Unter dem islamischen Erbgesetz kann ihre Anzahl recht gross sein. Hinterliesse ein Mann bei seinem Tode Vater, Mutter, Ehefrau, Söhne und Töchter, so wäre jeder von diesen ein Erbe und erhielte einen vorgeschriebenen Anteil der Erbschaft.

Unter derselben Kategorie von Erben gibt es weder eine Bevorzugung noch einen Unterschied, wie zum Beispiel das Erstgeburtsrecht. Männer und Frauen sind alle Erben, obwohl der Anteil einer Frau im Allgemeinen die Hälfte des Anteils eines Mannes auf derselben Erbstufe beträgt. Der Grund hierfür ist, dass unter dem sozialen und wirtschaftlichen System des Islams die gesamte Verantwortung für den Unterhalt auf dem Ehemann, nicht auf der Ehefrau, lastet. Selbst wenn, wie es manchmal vorkommt, die Frau ein eigenes Einkommen hat, das grösser als das ihres Mannes ist, bleibt es die gesetzliche Verpflichtung des Mannes, für den Familienunterhalt zu sorgen. Die Ehefrau ist nicht rechtlich verpflichtet, zu den Haushaltsausgaben beizusteuern. 

Der Islam erkennt persönliches Eigentumsrecht und Privatbesitz an und gewährt ihnen vollen Rechtsschutz. Er beschränkt nicht den Reichtum, aber er regelt Art und Weise seiner Erwerbung und gibt die Zwecke an, für die er verwendet werden muss und für die er verwendet werden darf. 

Die Verschiedenheit von Begabung, Geschicklichkeit, Entschlusskraft, Unternehmungsgeist und dergleichen sowie infolgedessen auch von Einkommen und Lohn und eine Ungleichheit des Wohlstandes und der materiellen Mittel werden vom Islam anerkannt und sogar betont (XVI, 72). 

Tatsächlich gehört eine gewisse Ungleichheit darin zum Sinn des Lebens. Der Islam sucht diese, wie auch alle anderen Begrenzungen und Einschränkungen, zur Förderung sozialer Zusammenarbeit auf gedeihlicher Grundlage zu verwenden: 

“Und helfet einander in Rechtschaffenheit und Frömmigkeit; doch helfet einander nicht in Sünde und Feindschaft. Und fürchtet Allah; wahrlich, Allah ist streng im Strafen.“ (5:3)

Der Islam berücksichtigt und bestärkt den Wettbewerbsgeist, aber sucht ihn in ausschliesslich wohltätige Bahnen zu leiten. 

“Und jeder hat ein Ziel, nach dem er strebt; wetteifert daher miteinander in guten Werken.“ (2:149)

Quelle: Sir Muhammad Zafrullah Khan, Gesellschaftliche Bedeutung des Islam, Verlag der Islam, 1993, S. 7-25